Wie ein Mahnmal steht der Eintrag vom 14. November immer noch auf der X-Seite des FC St. Pauli, die offenbar nie deaktiviert, sondern nur stillgelegt wurde. "Wir sind raus", so lautete damals die finale Mitteilung an knapp eine Viertelmillion Follower auf dem sozialen Medium, das früher mal Twitter hieß und damals eine heile, hellblaue Welt mit kleinen Vögelchen war. Zweifelsfrei lässt sich feststellen, dass diese Zeiten vorbei sind und dass auf X inzwischen nicht nur die Farbe Schwarz vorherrscht, sondern auch totalitäre und in Teilen anti-demokratische Sitten, die viele Nutzer zum Abschied drängten. Ungeklärt bleibt allerdings die Frage: Was bringt so ein Abschied eigentlich?
Als mit St. Pauli und Werder Bremen damals zwei Fußball-Erstligisten auf einen Schlag die Plattform mitsamt Protestbrief verließen, war ein X-Boykott durchaus kurz ein großflächiges Thema in Deutschland. Welcher werte-orientierte Erstligist könne sich eigentlich noch auf einer Plattform präsentieren, die einem demokratie-feindlichen Verschwörungstheoretiker wie Elon Musk gehört, lautete damals die Frage. Anscheinend die Mehrheit, lautet nun, Monate später, die empirische Antwort: Ein Großteil der Fußballvereine ist weiterhin auf X aktiv, die Debatte hat sich vorerst wieder beruhigt.
Theoretisch aber wäre die Antwort natürlich: niemand. Wer sich Werte auf die Fahnen und neben das Vereinswappen schreiben möchte, kann sich eigentlich nicht mit einer Person wie Musk assoziieren. Und natürlich ist das eine Wahrheit über das Dasein in einem Netzwerk: Wer teilnimmt, wer regelmäßig Content für Follower bereitstellt, wer möglicherweise sogar in Werbung investiert, der unterstützt die jeweilige Plattform. Nicht einmal die Mehrheit der stillen Zuhörerschaft, die teilweise keine eigenen Postings (mehr) absetzt und nur ab und zu den News-Feed verfolgt, kann sich mit dem Argument der Passivität verteidigen. Erst recht kann daher kein Fußballverein der Welt für sich in Anspruch nehmen, unbeteiligt zu sein, wenn am Samstag um 15.30 live über die eigenen Fußballspiele auf X berichtet wird.
St. Pauli und Werder Bremen haben daher insofern eine Veränderung herbeigeführt, als dass sie mit ihrer Account-Aufgabe eine neue Grenze definiert haben: Ein Abschied aus einem ohnehin nur semi-profitablen Teilbereich der sozialen Medien ist offenbar möglich, ohne dass danach das ganze Marketing einbricht. Das ist begrüßenswert. Um nun aber auch vom Rest der deutschen Fußballwelt eine Abkehr von X zu fordern, muss man schon allerhöchste moralische Ansprüche setzen, die im Fußball fehl am Platz sind – weil das ganze System zu komplex geworden ist, um noch ausgiebig Moral zu fordern. (Screenshots X-Kanäle Werder Bremen/FC Bayern: sj/vds)
Die Debatte über Abschied und Verbleib auf einer kritikwürdigen Plattform X kann man im weiteren Kontext auch als eine Debatte über Moralismus im Fußball sehen – und wird dann zu einem klaren Ergebnis kommen. Ehrenwert ist es zwar, dass Bundesligisten sich einen Werte-Kanon auferlegen, aber belangbar bleibt in gewisser Weise trotzdem jeder. Ein paar provokative Beispiele: Kann man in Wolfsburg trotz VW-Krise noch Millionengehälter an Fußballspieler überweisen? Kann man in München damit werben, nicht an der Super League teilzunehmen, wenn man gleichzeitig alle Mittel ausschöpfen möchte, um den Rest der Liga finanziell weiter abzuhängen? Kann man in Stadien und auf Trikots Werbung machen für Urlaub in Ruanda oder einen ungesunden Energydrink? Und was ist, wenn die Halbzeitanalyse von einem höchst kritikwürdigen Unternehmen wie der Deutschen Vermögensberatung präsentiert wird? Wenn der übertragende Sender DAZN nicht nur eine kryptische Abo-Preisstruktur hat, sondern bald auch noch in Teilen mit Geld aus Saudi-Arabien die Rechtepakete für die Bundesliga einkauft?
Die Wahrheit ist, dass all das selbstverständlich weiterhin möglich ist – weil das Publikum es akzeptiert. Solange Menschen in Fußballstadien gehen und ihre Fernseher einschalten, billigen sie auch den Status Quo, der nun mal nach moralischen Kriterien imperfekt ist. Insbesondere in Deutschland tut man sich weiterhin schwer mit dieser Erkenntnis, in vielen anderen Ländern wird der Fußball längst als unmoralisches Vergnügen durchgewunken.
Einem Bundesligaverein, der viele Kompromisse zwischen Werte-Kanon und Finanzierung macht, aber am Ende sportlich erfolgreich ist, kann man in diesem Kontext auch schwerlich vorwerfen, Teil eines sozialen Mediums wie X zu sein: Letztlich sind sie Spieler auf einer globalen Bühne, die Regeln machen andere – und wer Musk einschränken möchte, sollte seine Hoffnungen nicht in den FC St. Pauli oder den SV Werder Bremen setzen, sondern in die Regierungen und in die Unternehmer der Welt.
Einen anderen Vorwurf allerdings gibt es völlig zu Recht: Dringend aufhören sollten die Bundesligisten in diesem Kontext auch damit, schwungvoll für ihre honorigen Werte und moralischen Prinzipien zu werben. Leere Worte zu diesen Themen zu verbreiten ist auf allen Plattformen unpassend – nicht zuletzt auf X.