Am letzten Freitag im Oktober bekam Dietmar "Didi" Hamann die Bestätigung für seine erfolgreiche Arbeit von höchster Stelle. "Didi läuft gerade ein bisschen aus dem Ruder, habe ich das Gefühl", sagte Thomas Tuchel, Trainer des FC Bayern, bei seiner Pressekonferenz vor dem Spiel gegen Darmstadt. Dann fügte er noch an, Hamann sei "ganz sicher nicht wichtig genug, dass wir uns drum kümmern, reagieren oder uns ärgern lassen".
Ein paar Stunden später stand die Schlagzeile "Tuchel attackiert Hamann" in der Bild-Zeitung, und vermutlich knallten irgendwo in der PR-Abteilung des Fernsehsenders Sky die Sektkorken. Hamann hatte es mithilfe eines simplen Kolumnentextes geschafft, dass die Bayern sich um seine Ausführungen gekümmert, darauf reagiert und sich schon auch ein bisschen ärgern lassen hatten, auch wenn sie das natürlich niemals zugeben würden. Das Spiel mit dem Experten und dem Trainer, es war wieder einmal hervorragend aufgegangen, vor allem für diejenigen, die dem Experten sein Gehalt überweisen. (Hamann-Foto: Marcel Engelbrecht/firo sportphoto/augenklick)
Das gezielte Aus-dem-Ruder-Laufen, es gehört zum Geschäft bei Sky und in gewisser Weise auch zum Geschäft des Expertenwesens. Das muss nichts Schlechtes sein, Hamann hat jedes Recht, sich so kritisch zu äußern, wie er möchte. Mit den Experten im Sport ist es ein wenig wie mit der Demokratie: Alle Richtungen sollten repräsentiert und toleriert werden, solange man sich innerhalb eines gewissen Meinungsspektrums befindet und nicht ins Schwurbeln kommt.
Bei einer kleinen Reise durch das deutsche Expertenwesen im Sport lässt sich feststellen: Das gelingt aktuell besser denn je. Es ist inzwischen eine beachtlich diverse Meinungslandschaft, die sich von Wochenende zu Wochenende in Fernsehstudios und Fußballstadien, auf Sportplätzen und an Skihängen durch das Fernsehen talkt. Und die später in sitzenden Runden und Taktik-Podcasts nachbespricht und analysiert.
Im Fußball sind es die lautstarken Meinungsführer wie Hamann und Lothar Matthäus, die im Alltag den Ton angeben, manchmal scharf an der Grenze zum Boulevard, aber meist gestützt von guten Informationen. Dazu kommen bei DAZN und Prime Video analytische Ansätze in den Übertragungen, während ARD und ZDF nicht nur wegen Bastian Schweinsteigers inzwischen komplett silbernen Haaren weiterhin die Rolle der Elder Statesmen unter den Sportübertragungen einnimmt.
Ausgeglichen und fair wirkt das in seiner Bandbreite und erfüllt die Ansprüche, die man an Experten richten sollte. "Fachwissen und Unterhaltungswert in der Kombination, das ist die Rolle, die sich alle wünschen", sagt Jana Wiske von der Hochschule Ansbach, die sich in ihrer Forschung mit Sportjournalismus beschäftigt – und daher auch mit Experten, die sich in einer wichtigen Funktion allerdings von Journalisten unterscheiden: Einen "anderen Blickwinkel" sollten sie liefern, ihre Kontakte als Ex-Sportler nutzen, um bessere Informationen von Protagonisten zu erhalten – und vor allem: "Experten sind im Idealfall durchaus emotional und stehen auch für eine gewisse Nähe, im Gegensatz zu den Sportjournalisten."
Die Emotionalität, mit der Charaktere wie Torsten Mattuschka etwa bei Sky die zweite Fußball-Bundesliga begleiten, sorgt gleichzeitig für Nähe und ein besseres Verständnis für den Sport bei den Zuschauern – und ist daher unbedingt einzufordern. "Tusche" ist ein Vorzeigebeispiel für authentisches, kritisches und gleichzeitig unterhaltsames Expertentum, mit dem Mut zu klaren Thesen und gleichzeitig dem Talent für viel Empathie gegenüber den Fußballern und Trainern, die sich nach Spielen erklären. (Mattuschka-Foto: Jan Fromme/firo sportphoto/augenklick)
Mattuschka, Sebastian Kneißl und viele andere stehen im Fußball für eine begrüßenswerte Entwicklung, nicht nur große Namen im Fernsehen zu positionieren – sondern vor allem Charaktere, die ihre neue Jobbeschreibung gut ausfüllen. Dass das Qualifikationskriterium "Champions-League-Auftritte" hinter der Authentizität ansteht, ist aus Zuschauerperspektive ein Segen. Man muss manchen Senderchefs ein Kompliment für diesen Mut aussprechen, weil sie eine Generation zu Wort kommen lassen, die das Plattitüden-Bingo der 1990er-Jahre hinter sich lässt. "Extrovertiert genug sein, um mit Freude zu reden", beschreibt Wiske diese Eigenschaft, die eben nicht auf alle zutrifft, die früher auf dem Feld zu den Weltbesten zählten.
Anders verhält es sich in den Randsportarten, wo schon die Aufgabenstellung eine ganz andere ist. Experten müssen hier eher informativ auftreten und nicht nur unterhaltsam – es geht auch darum, den Sport zu erklären, während man ihn sieht. Gut zu beobachten war das zuletzt beim Rugby, wo während der Weltmeisterschaft die Übertragungen von ran eine Meisterklasse im Erklären hochkomplexer Regeln waren, ohne dabei den Spielfluss aus den Augen zu verlieren.
Die hohe Schule des Expertentums ist das. Sie findet da statt, wo es um mehr geht als um lautstarke Behauptungen, die Bayern-Trainer reizen sollen: Es geht letztlich für viele Experten im Randsportbereich auch darum, eine Plattform für ihren Sport auszunutzen und im Idealfall das Gesicht einer Sportart zu sein. Live-Übertragungen sind im Wettbewerb mit der Schnelllebigkeit der Sozialen Medien eine Art Trumpfkarte für die Sender, heißt es in der Branche. Und um die auszuspielen, braucht man die richtigen Charaktere vor dem Schirm, die aus wenigen Minuten Übertragung das meiste herausholen und manchmal mehr Identifikationsfigur sein können als die Sportler selbst.
Deutschlandweit gelingt das kaum jemandem besser als der Galionsfigur des alpinen Skisports: Felix Neureuther hat nach seinem Karriereende 2019 den Übergang vom Rennfahrer zum Fernsehgesicht so leichtfüßig bewältigt wie früher einen Slalomlauf. Heute ist er eine sachliche und doch emotionale Stimme in seinem Sport, beherrscht alle Tonarten von witziger Unterhaltung bis aktivistischer Kritik auf allen Plattformen und steht damit für das, was ein Experte im Idealfall auch sein sollte: Neureuther ist gleichzeitig ein Gewinn für den übertragenden Sender – und für die Zusehenden. (Neureuther-Foto: Christina Pahnke/sampics photographie/augenklick)
Felix Hasaelsteiner schreibt seit 2018 für die Süddeutsche Zeitung. Auch für die Münchner tz, das Magazin 11Freunde oder den Vereinsblog Miasanrot.de war er aktiv.