"Im Zweifel für den Angeklagten". Im deutschen Strafrecht gilt dieser Grundsatz. Jemand ist nicht zu verurteilen, wenn seine Schuld nicht eindeutig bewiesen ist. Bei der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA oder dem Internationalen Sportgerichtshof CAS gilt dieses "in dubio pro reo" nicht. Dort gilt eine Beweisumkehr: Der Angeklagte muss seine Unschuld zweifelsfrei belegen können, sonst wird er gesperrt.
Es sei denn, er ist Chinese oder Tennisprofi. Natürlich hat der Fall des Hamburger Zweitligaprofis Mario Vuskovic zunächst einmal nur regionales Interesse hervorgerufen. Ein Verteidiger vom HSV, EPO-Verdacht – nein: Beweis, sagt die WADA, Sperre. Vier Jahre, gerade vom CAS bestätigt. Alles normal also. Findet auch ARD-Doping-Experte Hajo Seppelt, der sonst doch eher als ein kritischer Kollege auftritt, der Dinge hinterfragt und anzweifelt.
Dabei wirken für den Laien manche Dinge in diesem Verfahren fragwürdig. Zum Beispiel, dass keine anderen Beweise zugelassen wurden als die Bild-Interpretation, mit der EPO üblicherweise nachgewiesen werden soll. Entlastende Argumente wurden vor dem CAS nicht berücksichtigt. Es gilt allein das von der WADA angewandte Sar-Page-Verfahren, nichts anderes. Und selbst das wies Unregelmäßigkeiten auf. Wie soll dann jemand seine Unschuld beweisen?
Konkret bei Vuskovic: Ein Hautscreening ergab keinerlei Einstichstellen für Injektionen. Dass HSV-Mediziner Dr. Wolfgang Schillings dokumentierte, dass es bei den Blutwerten des Spielers rund um den positiven Test keine Veränderungen gab, bewertete der CAS in seiner Berufungsverhandlung als "private Testung". Ein Lügendetektor-Test habe laut Urteil "keinen praktischen Einfluss auf den Prozess". Okay – in Deutschland gilt der Test vor Gericht auch nicht, in 50 anderen Ländern wie Großbritannien oder Finnland aber schon, wo die WADA und der CAS ebenfalls tätig werden. (Hardt-Foto: privat)
Der Spieler Mario Vuskovic wird nun noch zwei weitere Jahre nicht seinem Beruf nachgehen können, weil die CAS-Richter "deutlich überzeugt sind, dass der Athlet einen Anti-Doping-Regelverstoß begangen hat". Dann ist es wohl so. Man mag sich als Sportjournalist mit diesen ganzen Doping-Dingen auch nicht wirklich beschäftigen.
Die Wenigsten von uns haben die entsprechende Expertise. Durch die Vorfälle des Sommers ist aber wieder deutlich geworden, dass es dem System an Stringenz und dadurch am Ende an Glaubwürdigkeit fehlt. Jedenfalls für den Teilzeitbeobachter, was die meisten Sportjournalisten nun mal sind.
Rund um die Olympischen Spiele haben wir praktisch jeden Abend von Seppelt die Geschichte von den 23 chinesischen Schwimmern gehört. Bei denen wurde 2021 das verbotene Herzmittel Trimetazidin gefunden. Die Chinesen erklärten, Spuren des Mittels hätten sich in der Küche eines Hotels befunden, in dem die Athleten untergebracht waren. Ach so. Die WADA sah auf Basis der Analysedaten "keine Grundlage”, die "Erklärungen der Kontamination anzufechten". Ein Skandal, gerade im Lichte anderer Vorfälle? Aber ja!
Wie auch zunächst der Fall Jannik Sinner. Der Tennis-Weltranglistenerste ist im März zweimal positiv auf das verbotene Steroid Clostebol getestet worden. Die Tennis Integrity Agency folgte Sinners Darstellung, das Mittel sei unbeabsichtigt durch seinen Masseur über die Haut übertragen worden. Eine Erklärung, fast so plausibel wie einst Dieter Baumanns Zahnpasta.
Aber Tennis braucht nach dem Ende der Ära der "Großen Drei" den Zweikampf der neuen Superstars Carlos Alcaraz und Sinner. Und dass WTA sowie ATP manchmal eher großzügig sind bei der Sanktion großer Stars, ist nicht ganz neu. Immerhin hat sich die WADA nun Ende September entschieden, gegen den Freispruch von Sinner Berufung beim CAS einzulegen. Sie fordert "eine Sperre von einem bis zwei Jahren".
Alles andere wäre auch komplett unverständlich gewesen und hätte dem ohnehin angekratzten Ruf der Agentur – und damit dem gesamten Anti-Dopingkampf – weiter geschadet. Mal sehen, wie der CAS nun entscheidet und wann. Die internationale Aufmerksamkeit für den Fall Sinner wird jedenfalls größer als für den Fall Vuskovic.
Andreas Hardt, vormals Redakteur bei SID und dapd, arbeitet als freier Journalist von Hamburg aus. Er schreibt die Kolumne "Hardt und herzlich" für den monatlichen Newsletter des Verbandes Deutscher Sportjournalisten. Hier gelangen Sie zu Hardts Xing-Profil.