Kolumne "Hardt und herzlich"

Voyeurismus

02.09.2024

"Anne, halt die Fresse!" Ist das ein Skandal? Andreas Hardt findet, dass die Beobachtung von Sportlerinnen und Sportlern Grenzen haben sollte.

 

"Anne, halt jetzt die Fresse!" Und, ist sonst noch etwas vom olympischen Hockeyturnier der deutschen Damen hängengeblieben? Welchen Platz sie am Ende belegt haben, zum Beispiel? Oder wie der Bundestrainer heißt, der seine Spielerin in einer Viertelpause zusammengefaltet hat? Valentin Altenburg ist das, ein ausgesprochen netter, höflicher, empathischer Mensch, der sehr genau weiß, was er tut. Aber egal.

"Skandal", schrie es von den Schlagzeilen, "Bundestrainer beleidigt Spielerin", "Wutrede", "Aufreger", "rastet aus", "brüllt Spielerin an", und so weiter und so fort. Medien äußerten sich, die noch nie ein Spiel der Hockeydamen gesehen haben, geschweige denn Altenburg und die zur Ordnung gerufene Anne Schröder kennen. Die auch die Szene in Gänze nicht verfolgt haben, mithin gar nicht einordnen können, was da tatsächlich los war.

Egal: "Halt die Fresse", das sind Klicks und Page-Impressions. Darauf kommt es an. Und das eine und andere Medium kreierte dann noch schnell eine Online-Umfrage: "Darf ein Bundestrainer so mit Spielern reden?" Die überwiegende Mehrheit der Antworten war klar: natürlich nicht, rauswerfen den Mann, unmöglich. Und so weiter. Es ging nicht um den Sport, es ging einigen eben nicht um die sachliche Darstellung und Erklärung des Vorgangs, es ging darum, Aufregung zu schüren. Das war Populismus, weiter nichts.

Der "Skandal" ist eher als die Wortwahl eines Trainers die Tatsache, dass die ganze Welt bei einer Ansprache an die Mannschaft mithört. Dabei geht es niemanden außerhalb etwas an, was innerhalb eines Teams besprochen wird. Und auch nicht in welchem Ton. Was in der Kabine ist, bleibt in der Kabine – leider gilt das schon lange nicht mehr überall, und bei Auszeiten auf dem Spielfeld erst recht nicht. Kaum versammeln sich Spieler und Coaches in einem Kreis, eilen die mobilen TV-Teams heran, die Mikrofon-Angel baumelt wie ein Galgenstrick über den Köpfen. Und die TV-Zuschauer hören jedes Wort, sehen jede Geste, dringen ein in die Intimität eines eigentlich geschlossenen Verbandes.

Wer ist eigentlich wann genau auf die Idee gekommen, diesen Voyeurismus zu erlauben? Die Älteren erinnern sich, dass vor DFB-Pokalspielen Rolf Töpperwien für das ZDF regelmäßig in den Kabinen der unterklassigen Amateurteams auftauchte, wenn es gegen Bundesligisten ging. Dann deklinierte er die bürgerlichen Berufe des Teams aus Hintertupfingen durch: Der Torwart hat heute morgen noch Milch ausgefahren und der Mittelstürmer arbeitet in der Kreisverwaltung – halbe Stelle. Dann hielt der Trainer eine laute Motivationsansprache, die gerne mit "Männer!" begann. (Hardt-Foto: privat)

So ging das irgendwann wohl los. Manchmal ist das interessant, meistens ist das peinlich. Die Kabinenansprache des Trainers von Regionalligist Sportfreunde Lotte dauerte über eine Minute und wirkte mit dem vor Kameras gezeigten Motivationsgebrüll wie die Parodie einer Kabinenansprache. Vor allem, weil anschließend der Karlsruher SC bei seinem 5:0-Sieg schon nach 81 Sekunden in Führung ging. Und ob Jürgen Klinsmanns im Wortmann-Film über die WM 2006 veröffentlichte Rede dem Ruf des Schwaben als Trainer wirklich genutzt hat, ist mindestens ungewiss: "Die Polen stehen mit dem Rücken zur Wand und wir knallen sie durch die Wand hindurch."

Nähe und Interesse steigern ist offenbar das Interesse der Verbände insbesondere von sonst weniger beachteten Sportarten, weshalb sie es zulassen, dass ihre Trainer und Spieler exhibitioniert werden. Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass die handelnden Athleten diese Auszeit-Überwachung so lustig finden. Aber auf die Bedürfnisse von Sportlern nehmen Funktionäre auch nicht immer Rücksicht. Und man fragt sich, was noch als nächstes folgt: Die Live-Übertragung aus der Kabine während der Halbzeit? Noch gibt es gewisse Grenzen, zum Glück. Aber wer weiß, wie lange die noch Bestand haben.

Andreas Hardt, vormals Redakteur bei SID und dapd, arbeitet als freier Journalist von Hamburg aus. Er schreibt die Kolumne "Hardt und herzlich" für den monatlichen Newsletter des Verbandes Deutscher Sportjournalisten. Hier gelangen Sie zu Hardts Xing-Profil.