Kolumne "Hardt und herzlich"

Eine Überdosis "Spielermaterial"

01.07.2024

Viele Sender, viele Menschen, die sprechen. Andreas Hardt ist nicht mit allem einverstanden, was während der EM im Fernsehen gesagt wird.

 

Wird das bei Olympia eigentlich genau so? Bei der Fußball-EM jedenfalls wurde und wird personell schwer aufgefahren. ExpertInnen, ModeratorInnen im Studio und im Stadion. Dazu die oder der Kommentator/in, natürlich. Co-KommentatorInnen,  Und FieldreporterInnen. Im Studio dann eine oder ein weiterer Moderator/in und ExpertInnen, gerne zwei, mindestens. Und halt: "Wir holen mal eben unseren Schiedsrichter-Experten dazu". Natürlich, den auch. Und das alles mal drei, weil nicht nur ARD und ZDF die Spiele der Euro übertragen, sondern eben auch MagentaTV mit "Untermieter" RTL.

Das bringt schon einen gewaltigen Personalbedarf, wenn man denn dieses Rundum-Alles-Paket schnürt. Aber dadurch eben auch ein Wiedersehen mit so manch vergessenem Gesicht. Eben noch hat der Michael Ballack für Schuhe ohne Schnürsenkel geworben – "sehen Sie, so einfach kommt man rein" – da analysiert er auch schon das Gegenpressing der Spanier – "so kommt man da raus". Der den wenigsten noch erinnerliche Ex-Profi Moritz Volz (Fulham, 1860 und St. Pauli) co-kommentiert im ZDF, wo er 2012 auch schon die "Küchenschlacht" gewann.

Wer kennt die Namen, zählt die Plauderer? Es ist so einfach, die Übersicht zu verlieren. Da moderiert die ZDF-Quiz-Allzweckwaffe Johannes B. Kerner beim Streamingdienst der Telekom. Bei RTL taucht der ehemalige Showpraktikant Elton als Fußball-Experte auf – was er als Fan des FC St. Pauli natürlich zweifelsfrei ist. Katrin Müller-Hohenstein macht Schlagzeilen wegen ihrer Socken mit Bart Simpson. Tabea Kemme macht Schlagzeilen wegen einer Latzhose und "Chris" (wie wir, seine medialen Freunde, ihn nennen) Kramer macht Schlagzeilen mit seiner Journalistenschelte. (Hardt-Foto: privat)

"In Fußball-Medien-Deutschland sucht man sich immer das raus, was später eine Instagram-Kachel wird. Dann ist es möglichst ein Zitat, wo alle schnell draufklicken", sagte Kramer im ZDF. Und? Ja! Leider hat der Ex-Nationalspieler mit dieser Beobachtung nicht ganz unrecht. Dass Klickzahlen mittlerweile im Zuge der medialen Transformation von einem analogen Medium zu digitalem Fastfood für viele Geschäftsführungen der Medienhäuser eine wichtige Währung sind, ist ja nicht zu leugnen.

"Man überlegt sich 100 mal, was man noch sagt, weil die Medien daraus immer ein Riesending machen. Das verhindert Typen", sagte Kramer auch noch. Und gibt damit sicher in Teilen auch einen Einblick in das Medientraining, das verantwortungsvolle Profiklubs ihren Mitarbeitern angedeihen lassen, damit die sich im On-Field-Interview nicht um Kopf und Kragen reden.

Das führt dann in der Konsequenz auch dazu, dass ZDF-Mann Jochen Breyer Kramer und Per Mertesacker doch bat, das Wort "Spielermaterial" nicht zu benutzen, weil Menschen als Material zu bezeichnen, das würden viele Leute kritisch sehen. Aber da hatte er die Rechnung ohne unseren "Fülle" gemacht. "Spielermaterial", sagte der Mittelstürmer also Richtung Breyer, "wir haben gutes Spielermaterial." Danke, bitte. Scheindiskussion beendet. Und Niclas Füllkrug bleibt ein "Typ" im Kramerschen Sinn.

Die allerschlimmsten Debatten rund um die EM finden ohnehin in den Medien statt, die nicht von rechten Verfassungsgegnern als "Staatsfunk" diskreditiert werden. Wenn der gescheiterte Bild-Chefredakteur und Machtmissbraucher Julian Reichelt gegen Antonio Rüdiger wegen dessen Glauben hetzt, ist das ebenso unerträglich wie all die AfD-Politiker, denen unsere Nationalmannschaft zu wenig arisch ist oder wie sie das nennen.  Aber die alle haben ihr Publikum – "endlich sagt's mal jemand", und wir können heilfroh sein, dass noch niemand im Zuge der "Ausgewogenheit" den offenbar längst völlig durchgeknallten Verschwörungstheoretiker und Corona-Leugner Thomas Berthold in ein sichtbares Studio eingeladen hat.

Jeder kann dann eben doch nicht TV-Experte werden. Zum Glück.

Andreas Hardt, vormals Redakteur bei SID und dapd, arbeitet als freier Journalist von Hamburg aus. Er schreibt die Kolumne "Hardt und herzlich" für den monatlichen Newsletter des Verbandes Deutscher Sportjournalisten. Hier gelangen Sie zu Hardts Xing-Profil.