Bald starten die Paralympics. Für viele Zuschauende oder Zuhörende startet damit auch wieder das Lernen von noch nicht gehörten Diagnosen, möglichen Unfallereignissen und – im besten Fall – Lernen von Klassifizierungen. Wer noch nie davon gehört haben sollte, könnte sich nun fragen, ob es bei den Paralympics um einen medizinischen Kongress geht, eine Reha-Veranstaltung, Treffen der barrierefreien Reiseanbieter. Nein.
Die Paralympics sind das zweitgrößte Sportereignis der Welt, nach den Olympischen Spielen. Deshalb möchten wir viel hören und sehen von sportlichen Leistungen, Kämpfen, Triumphen und eben auch den knappen Niederlagen und Siegen, die uns mitfiebern lassen. Oder? Wichtige Aufklärung ist das Wissen über Klassifizierungen. Warum der kleinwüchsige Athlet nicht gegen einarmige Speerwerfer antritt, liegt auf der Hand. Andere – weniger auffällige – Unterschiede mit teils großen Auswirkungen zum Beispiel unter Rollstuhlfahrer*innen sollten erklärt werden können (Lüke-Foto: privat).
Immer seltener müssen wir lesen, dass Rollstuhlfahrende an ihren Rollstuhl gefesselt sind. Stetiges Hinweisen auf das Losbinden hat geholfen. Leiden tun aber, in den Augen von Berichterstattenden immer noch viele Menschen mit Behinderungen an eben dieser. Erinnert ihr euch? Tischtennisspieler Valentin Baus hat nach seinem Paralympics-Sieg in Tokio in einem Interview korrigiert: „Ich leide nicht an der Glasknochenkrankheit. Ich habe sie.“
Als Mensch mit eigener Behinderung wünsche ich mir dass die Teilnehmenden der Paralympics vor allem als herausragende Sportler*innen gesehen werden. Nicht als Superheros, die „trotz“ ihrer Behinderung und mit ihrem „Leid“ ... ihr wisst schon. Mein Tipp an Journalist*innen ist: Wenn Sie etwas über Leid hören und darüber berichten wollen, fragen Sie danach. Woran leiden behinderte Sportler*innen?
Mangelnde Barrierefreiheit von Sportstätten, teure Hilfsmittel, zu wenig inklusive Angebote und und und ...
Mein größtes Leid als (Breiten-)Sportlerin im Rollstuhl ist die mangelnde Barrierefreiheit von Sportstätten! Mein zweitgrößtes Leid sind die teuren Hilfsmittel, deren (hohe) Kosten im Bereich erwachsener Sportler*innen selten übernommen werden. Ab hier wird die Leidensliste individueller: fehlende Assistenz für den Sport, zu wenig inklusive Angebote, zu wenig Peer-Angebote, schlechter ÖPNV, keine Sponsoren, weil zu wenig Aufmerksamkeit in den Medien ...
Und doch: Neben dem Mensch mit Behinderung in mir, die es so gern auf Augenhöhe und respektvoll hat, merke ich, dass mich Diagnosen auch beeindrucken. Ich bin beeindruckt von der deutschen Torfrau Ann-Katrin Berger, die sich nach zweimaligem Schilddrüsenkrebs in den Kader und zu einem Einsatz qualifiziert hat und dann auch noch großartig ist. Davon gehört habe ich aber erst nach dem Spiel gegen Kanada (Diversity-Logo: DOSB).
So bin ich im Dilemma. Ich bin selbst sehr beeindruckt von verschiedenen anderen Leistungen von Sportler*innen neben ihrem jeweiligen Sport. Sei es eine Erkrankung, Elternschaft, eine Firmengründung, ein Studienabschluss. Ich lese gern, wie Menschen mit ihrem Leben umgehen, erahne die enorme Energie, die hinter einigem steckt. Dies allerdings nicht während eines Wettkampfs, sondern danach.
Bei den Olympischen und Paralympischen Spielen geht es um Sport und Leistung, nicht nur bei Sportler*innen mit Behinderungen, aber unbedingt auch bei ihnen. Was wird man denn noch fragen und sagen dürfen? Fragt doch einmal Para-Sportler*innen, was sie behindert hat, im wahrsten Sinne des Wortes. Wer und was sie unterstützt? Wie und wo trainieren sie? Gibt es Sponsoren? Wie haben Sie zum Sport gefunden?
Und wenn es sein muss: Fragt die Para-Sportler*innen, wer von ihnen die Zusammenlegung Olympischer und Paralympischer Spiele möchte. Aus meiner Wahrnehmung kommt dieser Wunsch oder korrekter formuliert: die immer wiederkehrende Frage (mehrheitlich) nicht von den Sportlerinnen und Sportlern mit oder ohne Behinderungen. Ich freu mich auf die Paralympics in Paris 2024. Ich freu mich auf die Berichterstattung im Fernsehen. Ich freu mich auf Sport! Ihr auch?
Die Paralympics finden vom 28. August bis 8. September in Paris statt. Katja Lüke arbeitet beim DOSB als Referentin im Ressort Diversity. Sie ist Diplom-Sozialpädagogin, Sportlerin im Rollstuhl und Mit-Autorin der „10 Knigge-Tipps zum respektvollen Umgang mit behinderten Menschen“. Wir danken dem DOSB, Lükes Kommentar veröffentlichen zu dürfen. Der Artikel erscheint außerdem auf „Die neue Norm“, einem Projekt von Raul Krauthausen.