02.01.2017
Thomas Bach kommt in den deutschen Medien viel zu schlecht weg – findet auch Günter Deister. In der Januar-Ausgabe des sportjournalist legt der langjährige dpa-Sportchef diesen Eindruck gleich auf mehreren Seiten dar. Deister hat auch eine Theorie, woran das liegt. Wenn man die Theorie richtig verstanden hat, geht sie in etwa so: Die deutschen Redaktionen, gebeutelt vom Spardruck, können es sich immer seltener leisten, eigene Reporter zu den Sessionen, Kongressen und anderen IOC-Zusammenkünften nach Doha oder sonstwohin zu entsenden, also orientieren sie sich an einem Leitmedium wie der „Süddeutschen Zeitung“. Die SZ allerdings zeichnet ihrerseits in „Ferndiagnosen“ ein verzerrtes Bild von Thomas Bachs Wirken. Und dem gehen dann alle anderen mehr oder weniger auf den Leim (Foto Thomas Bach: GES-Sportfoto/Augenklick).
Man fragt sich, wenn man diesen Beitrag liest, ob und wie der Autor die internationale Berichterstattung über Bach und dessen IOC verfolgt. Und nicht zuletzt: Wer hier eigentlich wem auf den Leim gegangen ist. Es mag ja sein: Früher, zu Deisters Zeiten, war die sportpolitische Berichterstattung tatsächlich noch weniger auf „Ferndiagnosen“ angewiesen. Spesen waren noch nicht so das Thema, man traf sich regelmäßig irgendwo auf diesem Planeten, Thomas Bach war damals noch nicht der vielbeschäftigte IOC-Präsident, aber auch schon wichtig, Reporter und Funktionär spielten gemeinsam Tennis, trugen gemeinsam die olympische Fackel, wirkten gemeinsamen in Kommissionen. Und wenn die Reporter dann ihre Berichte absetzten, waren das in gewisser Hinsicht durchaus keine Ferndiagnosen, weil man ja ganz nah dran war.
Schrumpfende Ressourcen sind allerdings eher nicht der Grund dafür, dass viele Sportjournalisten heute – gerade in der Sportpolitik – nicht mehr in erster Linie die Nähe zu den Funktionären suchen, über die sie berichten. Das gilt erfreulicherweise für immer mehr Sportredaktionen hierzulande. Im SZ-Sport sind inzwischen zwei Kollegen fast ausschließlich und weitere regelmäßig mit sportpolitischen Recherchen beschäftigt. Natürlich ist der Kontext wichtig, in dem Thomas Bach eine öffentliche Äußerung tätigt. Mindestens genauso relevant sind aber andere Fragen: Wie argumentiert Bach hinter verschlossenen Türen? Wen setzt er wie unter Druck? Wer profitiert von seinen Entscheidungen beziehungsweise denen der IOC-Gremien? Und: Zu welchen Fragen schweigt Bach oder flüchtet sich in Allgemeinplätze, auch wenn man ihm die ausführlichsten Fragenkataloge zukommen lässt?
Die Fifa hat inzwischen zumindest eine unabhängige Ethikkommission
Man muss als Journalist immer das ganze Bild sehen – das fordert Günter Deister in seinem Beitrag völlig zu Recht. Deshalb ist eines besonders ärgerlich: Dass der Kollege den Eindruck erweckt, der SZ-Sport zeichne durch Weglassen ein verzerrtes Bild von Thomas Bach, während tatsächlich Deister selbst in seiner vermeintlichen Beweisführung viel Wichtiges weglässt. Zufälligerweise das, worüber auch Bach am liebsten schweigt.
Man dürfe Fifa und IOC nicht gleichsetzen, schreibt Deister. Allerdings gehört auch zur Wahrheit, dass die Fifa inzwischen zumindest eine unabhängige Ethikkommission hat, die diesen Namen verdient, während das IOC weiter alles in der Familie löst. Der Fall der Whistleblowerin Julia Stepanowa, die die Affäre um das russische Dopingsystem ausgelöst hatte und vom IOC von den Rio-Spielen ausgesperrt wurde, hatte das auf beklemmende Weise in Erinnerung gerufen. Formal verhängt wurde das Verdikt von den IOC-Ethikern, allerdings wurde deren Abhängigkeit von der Verbandsspitze nicht nur bei diesem Vorgang offenkundig.
Ein weiteres Argument: Während Sepp Blatter im Fifa-Ehrenamt reich wurde, macht Thomas Bach den 365-Tage-Präsidentenjob beim IOC für schlappe 225.000 Euro im Jahr! Das mag formal so sein. Aber kann man Bachs Vita als Wirtschaftsanwalt wirklich trennen von seiner Karriere in der Sportpolitik? Hätte er damals wohl diesen sechsstellig dotierten Beraterjob von der Firma Siemens bekommen, wenn er durch sein Sport-Amt nicht Zugänge verspräche zu den Mächtigen und Einflussreichen dieser Welt? Solche Zusammenhänge hat Bach auch dann noch bestritten, wenn sie durch vorliegenden Schriftverkehr mit Händen zu greifen waren. Wenn es mögliche Interessenkonflikte gegeben habe, sei er in Sitzungen stets „vor die Tür“ gegangen. Nun, möglicherweise hat er vor der Tür ja die sportpolitische Journalistenreisegruppe getroffen und sie gleich vor Ort davon überzeugt, dass dieses Vor-die-Tür-Gehen Ausweis seines vorbildlichen Compliance-Verständnisses ist. In Wahrheit ist es formalistische Augenwischerei (Foto Sepp Blatter: Fotoagentur Kunz/Augenklick).
Man könnte Deisters Bach-Verteidigungsrede jetzt weiter Punkt für Punkt durchgehen. Ja, Bach hat in seiner Eröffnungsrede der Winterspiele 2014 gegen Diskriminierung aufgerufen. Ein in derlei Reden unüblicher, angesichts der Umstände aber auch dringend notwendiger Appell. Sozusagen: das Mindeste. Bach hat in seiner Schlussrede Wladimir Putin aber auch persönlich für sein Engagement gedankt – ebenfalls unüblich. War das nötig? Dieser blinde Überschwang? Zu einer Zeit, als in der Ostukraine bereits russische Spezialkräfte wirkten? Und darf man, wenn man über Sotschi und die Menschenrechte spricht, über den Umgang des IOC mit dem Fall Witischko schweigen? Jewgeni Witischko wurde, noch während die Spiele liefen, zu Lagerhaft verurteilt, er hatte als Umweltaktivist unter anderem gegen die enormen Kosten und Umweltschäden in Sotschi protestiert. 22 Monate verbrachte er schließlich im Lager. Was sagte das IOC in Sotschi dazu? Man habe sich bei den russischen Behörden (!) informiert, der Fall habe nichts mit den Olympischen Spielen zu tun, tangiere das IOC also nicht. Sache erledigt. Gegen Diskriminierung ansprechen ist das eine, danach handeln, wenn Handeln gefragt wäre, ist etwas ganz anderes.
Nicht zuletzt legt Günter Deister in seinem Beitrag dar, dass Bach 2016 nicht der erste IOC-Präsident gewesen sei, der „aus guten privaten Gründen“ der Eröffnungsfeier der Paralympics fernbleiben musste – und verschweigt dabei nicht nur den Riss zwischen olympischer und paralympischer Bewegung beim Umgang mit der Russlanddoping-Frage. Er lässt auch weg, dass die Polizei von Rio gerne nach dessen Einreise ein Gespräch mit Bach geführt hätte. Und zwar über dessen engen Vertrauten (die SZ würde vielleicht schreiben: „Bach-Freund“) Patrick Hickey, der seinerzeit als mutmaßlicher Kopf einer Schwarztickethändler-Bande in Rio in Haft saß und derzeit nur aus gesundheitlichen Gründen auf freiem Fuß ist – übrigens gegen eine Kaution, die aus Mitteln des Sports gestellt worden ist.
Das ganze Bild zeichnet man auf der Basis von Recherche
Auch hier hat die olympische Welt ihren Freispruch wohl mal wieder vor der Justiz gefällt. Die SZ hat in jenen Tagen Nachrichten an Thomas Bach von Hickeys Mobiltelefon im Wortlaut veröffentlicht. Hickey fordert darin in vertraulichem Ton von Bach sehr viel mehr Tickets, als seinem irischen NOK laut Kontingent zustehen. Was sagte das IOC dazu? Die Nachrichten seien ohne Bedeutung, der Präsident habe nämlich mit dem Ticket-Thema gar nichts zu tun! Eine denkbar schlechte Ausflucht: Tatsächlich macht genau das die Nachrichten an Bach erst bedeutsam. Darf man all das ignorieren, wenn man über Bachs Nicht-Erscheinen bei den Paralympics spricht? Übrigens nicht nur bei der Eröffnung, auch während sämtlicher folgender Wettkampftage?
Das ganze Bild zeichnet man nicht, wenn man seinem Berichtsobjekt immer schön vor Ort auf den Mund schaut. Das ganze Bild zeichnet man auf der Basis von Recherche. Recherche findet mal im Foyer eines IOC-Hotels statt, wo die Leute, wenn sie einem Journalisten seit Jahren vertrauen, oft ganz anders über ihren Präsidenten reden als gerade noch auf dem Podium. Recherche findet aber vor allem per Telefon, auch per Post und per Mail statt – und ist doch das Gegenteil einer „Ferndiagnose“!
Die These, international würde Bach ganz anders wahrgenommen als in Deutschland, ist falsch. Und sie wird nicht dadurch richtig, dass Günter Deister „de Volkskrant“ oder die „New York Times“ zitiert, die 2014 Bachs „erfrischende“ Rede bei der Eröffnung der Sotschi-Spiele gelobt haben. Man muss sich bloß noch mal die Pressespiegel aus dem Sommer 2016 raussuchen: Niemals zuvor war die weltweite Fassungslosigkeit über den Schlingerkurs und letztlich die Realitätsverweigerung des IOC und seines Präsidenten so einmütig. Vor allem in jenen Medien, die sich mit den Details beschäftigen. Bei den Menschen? Das wissen weder Thomas Bach noch Günter Deister. Einen Hinweis zumindest gibt es aber auch hier: Als Bachs IOC die russische Whistleblowerin Julia Stepanowa – wegen „ethischer“ Defizite – von den Rio-Spielen aussperrte, erhielt eine kurzfristig im Internet angesetzte Petition zugunsten der Athletin schnell einige Hunderttausend Unterzeichner (Foto Julia Stepanowa: firo sportphoto/Augenklick).
Der Unterschied ist, dass die internationalen Medien, anders als die deutschen, Thomas Bach erst seit 2013 intensiv wahrnehmen. Ihnen fehlen Erkenntnisse über Bachs deutsche Jahre als Sportstrippenzieher, mit denen sie sein heutiges Wirken in Beziehung setzen können. Wie Bach zum Beispiel einst im politischen Berlin bis in die letzte Nacht hinein versuchte, eine Anti-Doping-Gesetzgebung zu verhindern – ehe er am nächsten Tag dann öffentlich seiner Freude darüber Ausdruck verlieh, dass so eine Anti-Doping-Gesetzgebung jetzt kommt. Oder wie er den Münchner Werbern um die Winterspiele 2018 immer erzählt hat, klar hätten sie eine Chance – und wie diese Münchner Werber dann erst hinterher kapiert haben, als nämlich Pyeongchang gleich in der ersten Wahlrunde mit 63:25 Stimmen gewonnen hatte, dass die ganze teure Winter-Kampagne letztlich vor allem einen Zweck hatte: Eine deutsche Bewerbung um Sommerspiele 2020 zu verhindern. Die wurden nämlich 2013 auf der gleichen Session vergeben, auf der sich Bach auf den IOC-Thron heben lassen wollte.
Man kann es auch so sehen: Dafür, dass er regelmäßig sein eigenes Karriereinteresse über die Interessen des Sports gestellt hat, kam Thomas Bach in den Medien jahrelang noch viel zu gut weg. Unbehelligt von ihm zugewandten Medienleuten, die bis heute, wohl aus alter Verbundenheit, mit leidenschaftlichen Verteidigungsschriften für ihn in die Bresche springen. Gegen jeden Trend übrigens – denn es ist einsam geworden um Thomas Bach im olympischen Krisenjahr 2016. Weltweit, und nicht nur in den Medien. Auch die Athleten wenden sich ab, das muss Bach besonders schmerzen. Es waren ja die Athleten, auf deren Boykottdrohungen hin Russland diverse Weltcup- und WM-Veranstaltungen entzogen wurden. Es sind die Athleten, die Bach, das IOC und viele Fachverbände für deren „erschreckend nachsichtigen Umgang“ mit der russischen Staatsdoping-Causa angreifen. Gibt es einen stärkeren Beleg für das Zerbröseln der heilen olympischen Welt als den Aufstand der Athleten? Und wie ist der tiefe Graben zu verstehen, der heute zwischen Bach und den Vertretern führender Anti-Doping-Agenturen dieser Sportwelt klafft? Sie reden nicht mal mehr miteinander.
Bachs verheerend widersprüchliches Agieren in der russischen Staatsdoping-Affäre
Es ist gerade sehr in Mode, Fakten zu ignorieren und stattdessen einfach zu behaupten, dass man auf der richtigen Seite steht. Nur „die Medien“ hätten es halt noch nicht kapiert. Dem als Sportredaktion erstens eine fundierte Recherche entgegenzusetzen, zweitens aber auch – auf der Basis dieser Recherche! – eine klare Wortwahl in der Kommentierung, ist keine „Grenzüberschreitung“, wie Günter Deister das unterstellt. Sondern Ausdruck von Unabhängigkeit und, ja, vielleicht, Haltung.
Wer sich einen guten Eindruck über Thomas Bachs verheerend widersprüchliches (und in jedem Fall Putin-freundliches) Agieren in der russischen Staatsdoping-Affäre verschaffen will, für das Günter Deister in seinem Beitrag ebenfalls Verständnis aufbringt, der sei daran erinnert, dass Hans-Wilhelm Gäb, einer der renommiertesten deutschen Sportpolitiker und Wirtschaftsführer, im Sommer 2016 sogar seinen Olympischen Orden zurückgab – aus Protest gegen Bachs Anti-Doping-Politik. Und dem sei auch ein Gastbeitrag von Clemens Prokop aus dem Dezember 2016 empfohlen, in dem Prokop darlegt, wie Bach mit pseudo-juristischen Spitzfindigkeiten letztlich die eigene olympische Charta verrät. Prokop ist Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands und Jurist. Seinen sehr guten, sehr mutigen und berechtigterweise sehr Bach-kritischen Text („Erschrecken und innere Wut genügen nicht!“) verfasste Prokop, ganz ohne Reisespesen, am heimischen Schreibtisch, und veröffentlicht wurde er dann übrigens im Sportteil der FAZ.
Claudio Catuogno ist Stellvertretender Ressortleiter Sport bei der Süddeutschen Zeitung. Günter Deisters Kritik an der Berichterstattung der SZ über Thomas Bach lesen Sie hier.
Autor: Claudio Catuogno
Thomas Bach kommt in den deutschen Medien viel zu schlecht weg – findet Thomas Bach. Der deutsche IOC-Präsident führt das auf ein Phänomen unserer Zeit zurück. Man habe das ja bereits bei der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten gesehen, sagte Bach im November 2016 in Doha: Es gebe eben einen Unterschied „zwischen veröffentlichter Meinung und öffentlicher Meinung“ sowie zwischen „Wahrnehmung und Realität“. Die Medien mögen gegen mich sein, Hauptsache die Menschen stehen hinter mir! Behaupten kann man das ja mal.Thomas Bach kommt in den deutschen Medien viel zu schlecht weg – findet auch Günter Deister. In der Januar-Ausgabe des sportjournalist legt der langjährige dpa-Sportchef diesen Eindruck gleich auf mehreren Seiten dar. Deister hat auch eine Theorie, woran das liegt. Wenn man die Theorie richtig verstanden hat, geht sie in etwa so: Die deutschen Redaktionen, gebeutelt vom Spardruck, können es sich immer seltener leisten, eigene Reporter zu den Sessionen, Kongressen und anderen IOC-Zusammenkünften nach Doha oder sonstwohin zu entsenden, also orientieren sie sich an einem Leitmedium wie der „Süddeutschen Zeitung“. Die SZ allerdings zeichnet ihrerseits in „Ferndiagnosen“ ein verzerrtes Bild von Thomas Bachs Wirken. Und dem gehen dann alle anderen mehr oder weniger auf den Leim (Foto Thomas Bach: GES-Sportfoto/Augenklick).
Man fragt sich, wenn man diesen Beitrag liest, ob und wie der Autor die internationale Berichterstattung über Bach und dessen IOC verfolgt. Und nicht zuletzt: Wer hier eigentlich wem auf den Leim gegangen ist. Es mag ja sein: Früher, zu Deisters Zeiten, war die sportpolitische Berichterstattung tatsächlich noch weniger auf „Ferndiagnosen“ angewiesen. Spesen waren noch nicht so das Thema, man traf sich regelmäßig irgendwo auf diesem Planeten, Thomas Bach war damals noch nicht der vielbeschäftigte IOC-Präsident, aber auch schon wichtig, Reporter und Funktionär spielten gemeinsam Tennis, trugen gemeinsam die olympische Fackel, wirkten gemeinsamen in Kommissionen. Und wenn die Reporter dann ihre Berichte absetzten, waren das in gewisser Hinsicht durchaus keine Ferndiagnosen, weil man ja ganz nah dran war.
Schrumpfende Ressourcen sind allerdings eher nicht der Grund dafür, dass viele Sportjournalisten heute – gerade in der Sportpolitik – nicht mehr in erster Linie die Nähe zu den Funktionären suchen, über die sie berichten. Das gilt erfreulicherweise für immer mehr Sportredaktionen hierzulande. Im SZ-Sport sind inzwischen zwei Kollegen fast ausschließlich und weitere regelmäßig mit sportpolitischen Recherchen beschäftigt. Natürlich ist der Kontext wichtig, in dem Thomas Bach eine öffentliche Äußerung tätigt. Mindestens genauso relevant sind aber andere Fragen: Wie argumentiert Bach hinter verschlossenen Türen? Wen setzt er wie unter Druck? Wer profitiert von seinen Entscheidungen beziehungsweise denen der IOC-Gremien? Und: Zu welchen Fragen schweigt Bach oder flüchtet sich in Allgemeinplätze, auch wenn man ihm die ausführlichsten Fragenkataloge zukommen lässt?
Die Fifa hat inzwischen zumindest eine unabhängige Ethikkommission
Man muss als Journalist immer das ganze Bild sehen – das fordert Günter Deister in seinem Beitrag völlig zu Recht. Deshalb ist eines besonders ärgerlich: Dass der Kollege den Eindruck erweckt, der SZ-Sport zeichne durch Weglassen ein verzerrtes Bild von Thomas Bach, während tatsächlich Deister selbst in seiner vermeintlichen Beweisführung viel Wichtiges weglässt. Zufälligerweise das, worüber auch Bach am liebsten schweigt.
Man dürfe Fifa und IOC nicht gleichsetzen, schreibt Deister. Allerdings gehört auch zur Wahrheit, dass die Fifa inzwischen zumindest eine unabhängige Ethikkommission hat, die diesen Namen verdient, während das IOC weiter alles in der Familie löst. Der Fall der Whistleblowerin Julia Stepanowa, die die Affäre um das russische Dopingsystem ausgelöst hatte und vom IOC von den Rio-Spielen ausgesperrt wurde, hatte das auf beklemmende Weise in Erinnerung gerufen. Formal verhängt wurde das Verdikt von den IOC-Ethikern, allerdings wurde deren Abhängigkeit von der Verbandsspitze nicht nur bei diesem Vorgang offenkundig.
Ein weiteres Argument: Während Sepp Blatter im Fifa-Ehrenamt reich wurde, macht Thomas Bach den 365-Tage-Präsidentenjob beim IOC für schlappe 225.000 Euro im Jahr! Das mag formal so sein. Aber kann man Bachs Vita als Wirtschaftsanwalt wirklich trennen von seiner Karriere in der Sportpolitik? Hätte er damals wohl diesen sechsstellig dotierten Beraterjob von der Firma Siemens bekommen, wenn er durch sein Sport-Amt nicht Zugänge verspräche zu den Mächtigen und Einflussreichen dieser Welt? Solche Zusammenhänge hat Bach auch dann noch bestritten, wenn sie durch vorliegenden Schriftverkehr mit Händen zu greifen waren. Wenn es mögliche Interessenkonflikte gegeben habe, sei er in Sitzungen stets „vor die Tür“ gegangen. Nun, möglicherweise hat er vor der Tür ja die sportpolitische Journalistenreisegruppe getroffen und sie gleich vor Ort davon überzeugt, dass dieses Vor-die-Tür-Gehen Ausweis seines vorbildlichen Compliance-Verständnisses ist. In Wahrheit ist es formalistische Augenwischerei (Foto Sepp Blatter: Fotoagentur Kunz/Augenklick).
Man könnte Deisters Bach-Verteidigungsrede jetzt weiter Punkt für Punkt durchgehen. Ja, Bach hat in seiner Eröffnungsrede der Winterspiele 2014 gegen Diskriminierung aufgerufen. Ein in derlei Reden unüblicher, angesichts der Umstände aber auch dringend notwendiger Appell. Sozusagen: das Mindeste. Bach hat in seiner Schlussrede Wladimir Putin aber auch persönlich für sein Engagement gedankt – ebenfalls unüblich. War das nötig? Dieser blinde Überschwang? Zu einer Zeit, als in der Ostukraine bereits russische Spezialkräfte wirkten? Und darf man, wenn man über Sotschi und die Menschenrechte spricht, über den Umgang des IOC mit dem Fall Witischko schweigen? Jewgeni Witischko wurde, noch während die Spiele liefen, zu Lagerhaft verurteilt, er hatte als Umweltaktivist unter anderem gegen die enormen Kosten und Umweltschäden in Sotschi protestiert. 22 Monate verbrachte er schließlich im Lager. Was sagte das IOC in Sotschi dazu? Man habe sich bei den russischen Behörden (!) informiert, der Fall habe nichts mit den Olympischen Spielen zu tun, tangiere das IOC also nicht. Sache erledigt. Gegen Diskriminierung ansprechen ist das eine, danach handeln, wenn Handeln gefragt wäre, ist etwas ganz anderes.
Nicht zuletzt legt Günter Deister in seinem Beitrag dar, dass Bach 2016 nicht der erste IOC-Präsident gewesen sei, der „aus guten privaten Gründen“ der Eröffnungsfeier der Paralympics fernbleiben musste – und verschweigt dabei nicht nur den Riss zwischen olympischer und paralympischer Bewegung beim Umgang mit der Russlanddoping-Frage. Er lässt auch weg, dass die Polizei von Rio gerne nach dessen Einreise ein Gespräch mit Bach geführt hätte. Und zwar über dessen engen Vertrauten (die SZ würde vielleicht schreiben: „Bach-Freund“) Patrick Hickey, der seinerzeit als mutmaßlicher Kopf einer Schwarztickethändler-Bande in Rio in Haft saß und derzeit nur aus gesundheitlichen Gründen auf freiem Fuß ist – übrigens gegen eine Kaution, die aus Mitteln des Sports gestellt worden ist.
Das ganze Bild zeichnet man auf der Basis von Recherche
Auch hier hat die olympische Welt ihren Freispruch wohl mal wieder vor der Justiz gefällt. Die SZ hat in jenen Tagen Nachrichten an Thomas Bach von Hickeys Mobiltelefon im Wortlaut veröffentlicht. Hickey fordert darin in vertraulichem Ton von Bach sehr viel mehr Tickets, als seinem irischen NOK laut Kontingent zustehen. Was sagte das IOC dazu? Die Nachrichten seien ohne Bedeutung, der Präsident habe nämlich mit dem Ticket-Thema gar nichts zu tun! Eine denkbar schlechte Ausflucht: Tatsächlich macht genau das die Nachrichten an Bach erst bedeutsam. Darf man all das ignorieren, wenn man über Bachs Nicht-Erscheinen bei den Paralympics spricht? Übrigens nicht nur bei der Eröffnung, auch während sämtlicher folgender Wettkampftage?
Das ganze Bild zeichnet man nicht, wenn man seinem Berichtsobjekt immer schön vor Ort auf den Mund schaut. Das ganze Bild zeichnet man auf der Basis von Recherche. Recherche findet mal im Foyer eines IOC-Hotels statt, wo die Leute, wenn sie einem Journalisten seit Jahren vertrauen, oft ganz anders über ihren Präsidenten reden als gerade noch auf dem Podium. Recherche findet aber vor allem per Telefon, auch per Post und per Mail statt – und ist doch das Gegenteil einer „Ferndiagnose“!
Die These, international würde Bach ganz anders wahrgenommen als in Deutschland, ist falsch. Und sie wird nicht dadurch richtig, dass Günter Deister „de Volkskrant“ oder die „New York Times“ zitiert, die 2014 Bachs „erfrischende“ Rede bei der Eröffnung der Sotschi-Spiele gelobt haben. Man muss sich bloß noch mal die Pressespiegel aus dem Sommer 2016 raussuchen: Niemals zuvor war die weltweite Fassungslosigkeit über den Schlingerkurs und letztlich die Realitätsverweigerung des IOC und seines Präsidenten so einmütig. Vor allem in jenen Medien, die sich mit den Details beschäftigen. Bei den Menschen? Das wissen weder Thomas Bach noch Günter Deister. Einen Hinweis zumindest gibt es aber auch hier: Als Bachs IOC die russische Whistleblowerin Julia Stepanowa – wegen „ethischer“ Defizite – von den Rio-Spielen aussperrte, erhielt eine kurzfristig im Internet angesetzte Petition zugunsten der Athletin schnell einige Hunderttausend Unterzeichner (Foto Julia Stepanowa: firo sportphoto/Augenklick).
Der Unterschied ist, dass die internationalen Medien, anders als die deutschen, Thomas Bach erst seit 2013 intensiv wahrnehmen. Ihnen fehlen Erkenntnisse über Bachs deutsche Jahre als Sportstrippenzieher, mit denen sie sein heutiges Wirken in Beziehung setzen können. Wie Bach zum Beispiel einst im politischen Berlin bis in die letzte Nacht hinein versuchte, eine Anti-Doping-Gesetzgebung zu verhindern – ehe er am nächsten Tag dann öffentlich seiner Freude darüber Ausdruck verlieh, dass so eine Anti-Doping-Gesetzgebung jetzt kommt. Oder wie er den Münchner Werbern um die Winterspiele 2018 immer erzählt hat, klar hätten sie eine Chance – und wie diese Münchner Werber dann erst hinterher kapiert haben, als nämlich Pyeongchang gleich in der ersten Wahlrunde mit 63:25 Stimmen gewonnen hatte, dass die ganze teure Winter-Kampagne letztlich vor allem einen Zweck hatte: Eine deutsche Bewerbung um Sommerspiele 2020 zu verhindern. Die wurden nämlich 2013 auf der gleichen Session vergeben, auf der sich Bach auf den IOC-Thron heben lassen wollte.
Man kann es auch so sehen: Dafür, dass er regelmäßig sein eigenes Karriereinteresse über die Interessen des Sports gestellt hat, kam Thomas Bach in den Medien jahrelang noch viel zu gut weg. Unbehelligt von ihm zugewandten Medienleuten, die bis heute, wohl aus alter Verbundenheit, mit leidenschaftlichen Verteidigungsschriften für ihn in die Bresche springen. Gegen jeden Trend übrigens – denn es ist einsam geworden um Thomas Bach im olympischen Krisenjahr 2016. Weltweit, und nicht nur in den Medien. Auch die Athleten wenden sich ab, das muss Bach besonders schmerzen. Es waren ja die Athleten, auf deren Boykottdrohungen hin Russland diverse Weltcup- und WM-Veranstaltungen entzogen wurden. Es sind die Athleten, die Bach, das IOC und viele Fachverbände für deren „erschreckend nachsichtigen Umgang“ mit der russischen Staatsdoping-Causa angreifen. Gibt es einen stärkeren Beleg für das Zerbröseln der heilen olympischen Welt als den Aufstand der Athleten? Und wie ist der tiefe Graben zu verstehen, der heute zwischen Bach und den Vertretern führender Anti-Doping-Agenturen dieser Sportwelt klafft? Sie reden nicht mal mehr miteinander.
Bachs verheerend widersprüchliches Agieren in der russischen Staatsdoping-Affäre
Es ist gerade sehr in Mode, Fakten zu ignorieren und stattdessen einfach zu behaupten, dass man auf der richtigen Seite steht. Nur „die Medien“ hätten es halt noch nicht kapiert. Dem als Sportredaktion erstens eine fundierte Recherche entgegenzusetzen, zweitens aber auch – auf der Basis dieser Recherche! – eine klare Wortwahl in der Kommentierung, ist keine „Grenzüberschreitung“, wie Günter Deister das unterstellt. Sondern Ausdruck von Unabhängigkeit und, ja, vielleicht, Haltung.
Wer sich einen guten Eindruck über Thomas Bachs verheerend widersprüchliches (und in jedem Fall Putin-freundliches) Agieren in der russischen Staatsdoping-Affäre verschaffen will, für das Günter Deister in seinem Beitrag ebenfalls Verständnis aufbringt, der sei daran erinnert, dass Hans-Wilhelm Gäb, einer der renommiertesten deutschen Sportpolitiker und Wirtschaftsführer, im Sommer 2016 sogar seinen Olympischen Orden zurückgab – aus Protest gegen Bachs Anti-Doping-Politik. Und dem sei auch ein Gastbeitrag von Clemens Prokop aus dem Dezember 2016 empfohlen, in dem Prokop darlegt, wie Bach mit pseudo-juristischen Spitzfindigkeiten letztlich die eigene olympische Charta verrät. Prokop ist Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands und Jurist. Seinen sehr guten, sehr mutigen und berechtigterweise sehr Bach-kritischen Text („Erschrecken und innere Wut genügen nicht!“) verfasste Prokop, ganz ohne Reisespesen, am heimischen Schreibtisch, und veröffentlicht wurde er dann übrigens im Sportteil der FAZ.
Claudio Catuogno ist Stellvertretender Ressortleiter Sport bei der Süddeutschen Zeitung. Günter Deisters Kritik an der Berichterstattung der SZ über Thomas Bach lesen Sie hier.